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Titel
Stürler in Rom. Ein Berner Architekt auf Bildungsreise 1792


Autor(en)
Schnell, Dieter; Kehrli Manuel; Schlup Murielle
Erschienen
Bern 2011: Schloss Jegenstorf
Anzahl Seiten
58 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Axel Gampp

Der Stammbaum des Berner Patriziers Ludwig Samuel Stürler (1768 –1840) lässt sich genau zurückverfolgen, seine Ausbildung und sein Lebensweg hingegen weit weniger. Merkwürdig dunkel ist seine Biografie gerade an den Stellen, wo die Geschichte hellstes Licht hingeworfen hat. Laut frühester Quelle arbeitete er 1787 als Steinmetz mit am Rathausbau von Neuchâtel. Dieses Unternehmen, vom Pariser Architekten Pierre-Adrien Pâris in den Jahren nach 1784 geleitet, ist der revolutionärste Bau innerhalb des Gebietes des damaligen Fürstentumes und der damaligen Eidgenossenschaft. Es ist auch derjenige Bau, in den neben französischer Ästhetik am meisten Italienerfahrung einfliesst: die Säulen im Vestibül des Erdgeschosses weisen deutlich auf ihre antiken Vorbilder in Paestum hin, die Pâris aufgenommen und für ein Druckwerk vermessen hatte. Vielleicht fasste Stürler bei dieser Arbeit den Wunsch, einmal jenes gelobte Land antiker Grösse zu besuchen, wir wissen es nicht. Wir können auch nur ahnen, dass ihn die Erfahrungen von Neuchâtel zunächst einmal in die französische Hauptstadt trieben, wo er sich von 1789 bis 1791 aufhielt. Wieder fällt vom hellen Licht der Geschichte nichts auf ihn; kein Zeugnis berichtet darüber, wie er den Beginn der Revolution miterlebt hat. Nur der Architekt, bei dem er seine Ausbildung erhielt, ist bekannt: François-Jacques Delannoy, nicht der bekannteste unter den Architekten jener Tage. Delannoy war selbst in Rom gewesen, vielleicht hat er Stürlers Wunsch, Italien zu sehen, weiter Auftrieb verliehen, jedenfalls kann dieser im Anschluss an den Pariser Aufenthalt dank Geldern seiner Familie die Italienreise in Angriff nehmen. Hätte er es nicht als Architekt getan, es hätte ihm allein als Patrizier gut angestanden. Doch in seinem Falle überwiegt die Vermutung, er sei nach Italien gefahren, um nach der Rückkehr seine Chancen auf dem umkämpften heimischen Markt zu steigern. Denn Italien wuchs in jenen Tagen in noch höherem Masse als Paris für Architekten und Maler zu einer Referenz erster Güte heran. Die Pfade dieser Grand Tour waren gespurt. Der Weg umfasste in der Regel die vier Zentren Mailand, Venedig, Florenz und Rom, Stätten der wichtigsten Malerschulen. Erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam auch und allmählich der Süden Italiens hinzu. Im Falle Stürlers wirkt selbst das Licht Italiens nicht erhellend. Denn neben einer handvoll Zeichnungen hat er keine weiteren Zeugnisse in schriftlicher Form hinterlassen. Vor den Zeichenstift kamen ihm die gängigen Motive: das Forum Romanum, die Cestiuspyramide, der Palatin, die Via Appia sowie ausserhalb Roms das obligate Tivoli. In den Norden zurück fuhr er durch Umbrien, denn der Tempel an der Quelle des Clitumnus bei Spoleto ist ihm auch aufgefallen. Alles hat er in etwas distanzierter, bisweilen fast pedantischer, jedenfalls selten zum Atmosphärischen neigender Weise festgehalten, mehr dem Klassizismus verpflichtet als der aufkeimenden Romantik. Soweit erkennbar, hat ihn auch die Bekanntschaft mit Pâris nicht dazu bewogen, weiter nach Süden vorzudringen. Allem Anschein nach war er darin weniger mutig als sein Landsmann Melchior Berri, der sich 1827 bei der detaillierten Aufnahme der Ausgrabungen in Pompeji einen Sonnenstich zuzog.

Die Hoffnungen, die Stürler wohl an seine Italienreise knüpfte, haben sich nicht erfüllt; die Aufträge in Bern blieben aus. Zwar wurde er 1796 tatsächlich zum Steinwerkmeister ernannt, doch schon 1798 wurde das Amt aufgehoben. Nunmehr galt allein der freie Markt, der auch in Bern die Preise diktierte. Ganz offensichtlich hat Stürler einen schweren Stand gehabt, denn obwohl zahlreiche Projekte überliefert sind, hat er nur wenige realisieren können. Von den Vorhaben spricht der Katalog und lässt eigentlich erkennen, wie wenig die italienische Erfahrung nachgewirkt hat. Was Stürler plante, hätte auch aus der Kenntnis der französischen Revolutionsarchitektur entstehen können. Nirgends verbaut er – wie etwa Pâris in Neuchâtel – Erfahrungen von italienischen Vorbildern. In dieser Hinsicht scheint er wenig flexibel gewesen zu sein. Unbesehen der tatsächlichen Leistungen Stürlers ist es aber ein grosses Verdienst der Verfasser und Herausgeber, diesen Architekten aus dem Dunkeln der Geschichte ans Licht gehoben, sein Leben aufgerollt und minutiös nachgezeichnet zu haben, soweit das überhaupt möglich ist. Die Auswahl der Exponate der Ausstellung, die sämtliche im Katalog auch farbig wiedergegeben werden, bietet einen umfassenden, fast möchte man sagen: vollständigen, Überblick über das Werk. Seinetwegen braucht die Schweizer Architekturgeschichte nicht umgeschrieben zu werden. Gleichwohl ist Stürler in zweierlei Hinsicht ein typischer Repräsentant seiner Zeit: einerseits als aus der Oberschicht stammender Architekt, wie es in Bern mit Albrecht Stürler, Carl Ahasver von Sinner, Johann Jakob Jenner oder auch Niklaus Schiltknecht eine ganze Reihe von Vorläufern gab. Weder der Beruf des Steinmetzen, den Stürler zunächst ausübte, noch jener des praktizierenden Architekten scheint im Bern des Ancien Régime mit Standesdünkeln kollidiert zu sein. In einer Sozialgeschichte der Schweizer Kunst, die noch aussteht, könnte er als idealtypisches Beispiel angeführt werden. Andererseits bildet er den Anfang jener Karawane von Berufsgenossen, die im frühen 19. Jahrhundert Richtung Italien loszieht. Soweit auf einen Blick erkennbar, ist vor ihm (1754 –56) aus Bern nur Erasmus Ritter dorthin gereist. Im anbrechenden 19. Jahrhundert nimmt die Italiensehnsucht merklich zu, wobei zur Begründung gelegentlich auf den animierenden Einfluss von Goethes Italienreise hingewiesen wird, namentlich für die Erforschung des Südens. Ob auch Stürler von Goethe angeregt wurde, ist freilich zweifelhaft. Seinem geistigen Profil dürfte Pâris oder Delannoy in Paris wohl doch näher gestanden haben.
Axel Gampp, Basel

Zitierweise:
Axel Gampp: Rezension zu: Schnell, Dieter; Kehrli, Manuel; Schlup, Murielle: Stürler in Rom. Ein Berner Architekt auf Bildungsreise 1792. Katalog zur Ausstellung im Schloss Jegenstorf. Bern: Schloss Jegenstorf 2011. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 74 Nr. 2, 2012, S. 170-172.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 74 Nr. 2, 2012, S. 170-172.

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